Mit Michel de Montaigne über Freunde, Leben und Tod nachdenken (2024)

Der französische Denker aus dem 16.Jahrhundert war mit Krisen vertraut: Seinen engsten Weggefährten hat Montaigne an die Pest verloren. Seine Reflexionen über Freundschaft, Leben und Tod wieder zu lesen, lohnt sich – gerade heute.

Mit Michel de Montaigne über Freunde, Leben und Tod nachdenken (1)

Als 1585 in Europa die Pest ausbrach, zog sich Michel de Montaigne aufs Land zurück. Bekannt ist Montaigne als Autor jener «Essais», die zwischen 1580 und 1588 in fünf Auflagen erschienen, 1585 amtete er aber auch als Bürgermeister von Bordeaux. Doch offenbar wusste Montaigne, dass es Gegner gibt, bei denen nur der Rückzug hilft, und die Pest gehörte im 16.Jahrhundert fraglos dazu. Schon in den 1560er Jahren hatte sie in Europa gewütet, und ihr war auch Etienne de La Boétie zum Opfer gefallen, ein politischer und intellektueller Weggefährte Montaignes im Kampf für Toleranz und Freiheit und überdies sein liebster Freund.

Wie viel La Boétie Montaigne bedeutete – und was ihm die Seuche mit diesem Freund genommen hat –, lässt sich erahnen, wenn man nachliest, was Montaigne im Essay «Über die Freundschaft» schreibt. Es sei eine Freundschaft gewesen, so vollständig und vollkommen, wie es sie in der Geschichte kaum und unter den Menschen seiner Zeit gewiss nicht gegeben habe.

Wer wünschte sich derzeit nicht gelegentlich die Nähe eines solchen Freundes? Allerdings sind Freunde nach Montaigne kein Allzweckmittel; im Gegenteil porträtiert er die Freundschaft als die unverzweckteste aller Formen menschlicher Geselligkeit. So hält er fest: «Alle Freundschaften, welche die Wollust oder der Profit, die öffentliche oder häusliche Notwendigkeit errichten und erhalten, [sind] umso weniger schön und edel und umso weniger Freundschaft, als sich andere Gründe, Ziele und Früchte unter die Freundschaft selbst mischen.»

Freundschaft ist ein Bund, der nicht aus Leidenschaft geschlossen wird, noch, weil er wichtig wäre in der Not, sondern gänzlich aus freien Stücken. Freundschaft ist das radikale Gegenteil des «networking». Sie dient zu nichts, sie ist.

Das Leben, ein Glücksfall

Auch in Montaignes Reflexionen über Leben und Tod kann man sehen, welche Lücke die Seuche hinterlassen hat. Im Essay «Philosophieren heisst sterben lernen», geschrieben ebenfalls in den siebziger Jahren des 16.Jahrhunderts, bilanziert er nur zwei Wochen nach seinem neununddreissigsten Geburtstag: «Nach dem gemeinen Gang der Dinge lebst du schon lange nur durch einen ausserordentlichen Glücksfall. (...) zähle doch, wie viele unter deinen Bekannten mehr waren, die vor deinem Alter starben, als derer, die es erreichten; und sogar unter denen, die ihr Leben durch rühmliche Taten verherrlicht haben, leg ein Verzeichnis an, und ich will eine Wette eingehen, dass sich mehr darunter finden, die vor, als deren, die nach fünfunddreissig gestorben sind.»

Es ist selten, dass sich Montaigne einer Sache so sicher ist, dass er darauf wettet. Für uns indes ist das, was wir hier erfahren, eine Überraschung: Auch wenn wir von der geringen Lebenserwartung früherer Zeiten wussten – wer hätte auch nur einen Moment lang gedacht, dass das Leben nach fünfunddreissig ein ausserordentlicher Glücksfall sei? Selbst in der jüngsten Krise, die uns wie noch keine mit der Unvorhersehbarkeit der Zukunft konfrontiert hat, nehmen wir das Leben als Normal- und nicht als Glücksfall wahr – und sehen in einem frühen Tod ein ausserordentliches Pech.

Doch ob Glücks- oder Normalfall – ist nicht das Leben zu erhalten in beiden Fällen das, worum es gehen könnte? Das mag sein, doch in welch anderem Licht erscheinen einem Leben und Tod, wenn Menschen im Normalfall unerwartet sterben, weil sie durch Krankheit, Krieg oder einen so skurrilen Unglücksfall wie dem Sichverschlucken an einem Traubenkern mitten aus dem Leben gerissen werden.

Gegen einen plötzlichen Tod ist niemand gefeit, nur weil er gemäss Statistik noch ein paar Jährchen vor sich haben müsste. Denn «ob wohlauf oder fiebernd, zur See oder zu Hause, in der Schlacht oder rastend, der Tod [ist] gleich nahe». So kommt der Tod für Montaigne stets zur Unzeit, und das heisst: bevor all die Projekte, die das Leben sinn- und reizvoll machen, abgeschlossen sind.

Daher ist der Tod für Montaigne auch ein Lehrer nicht nur der Freiheit – «Wer sterben gelernt hat, der hat das Dienen verlernt», schreibt er ungewöhnlich pathetisch –, sondern auch des Humors. «Ich sah einen sterben», wird uns erzählt, «der sich noch im Endstadium unaufhörlich darüber beklagte, dass das Schicksal ihm beim fünfzehnten oder sechzehnten unserer Könige den Faden der Geschichte abriss.» Eine Wette verliert, wer glaubt, all seine Projekte ordentlich abschliessen zu können!

Den Menschen schildern

Es bleibt die Frage, was man angesichts einer solchen Perspektive hoffen und anstreben kann im Leben. Eine Antwort darauf findet sich in einem Text, den Montaigne kurz nach dem Pestausbruch von 1585 verfasst haben dürfte. So schreibt er im Essay «Über das Bereuen»: «Andere bilden den Menschen; ich schildere ihn und stelle einen Einzelnen dar, der gar übel gebildet ist und den ich, wenn ich ihn neu zu formen hätte, wahrlich ganz anders erschaffen würde, als er ist. Doch es ist getan.»

Montaigne verortet hier das Ziel seines Essays in der illusionslosen Selbstbeschreibung und Selbstreflexion. Das mag ambitionslos erscheinen, und dennoch erfordert es Kraft und Tugend, «vertu». Denn anders, als wir es in der Regel tun, wenn wir über uns selber nachdenken, betrachtet sich Montaigne im Lichte nicht seiner Absichten, sondern jener Widersprüche, die das Leben zutage treten lässt.

Das sorgt auf zwei Ebenen für Schwierigkeiten. Da ist zunächst das Problem, wie ein so widersprüchlicher Gegenstand wie die eigene Persönlichkeit überhaupt erkannt werden soll. «Ich kann meinen Gegenstand nicht festhalten», beklagt sich Montaigne, denn «er geht taumelnd und wankend in natürlicher Trunkenheit» vor sich hin. Trotzdem flüchtet sich Montaigne nicht in Skeptizismus; er tut Selbsterkenntnis nicht als unmöglich ab. Zwar gibt er zu, dass die Züge des Gemäldes, dessen Gegenstand er selbst sei, sich permanent «ändern und wandeln», aber, hält er gleichzeitig fest, «sie verwischen sich nicht». Selbsterkenntnis ist nach Montaigne möglich, wenn auch als Momentaufnahme.

Schwerer wiegt die zweite Schwierigkeit: Dem abzubildenden Gegenstand fehlt jegliche Erhabenheit. «Ich trage ein niedriges und ruhmloses Leben vor», hält Montaigne fest. Das ist – wenn’s um das eigene Leben geht – hart und verlangt eine ebenso rückhalt- wie rückzugslose Ehrlichkeit. Doch vielleicht erwächst gerade aus dieser Tugend jener Halt, dessen Menschen in der Abgeschiedenheit bedürfen.

Für das Nachdenken über die menschliche Existenz ist die eigene Belanglosigkeit jedenfalls nicht von Schaden. «Man gründet die ganze Moralphilosophie ebenso auf ein gemeines und namenloses Leben wie auf ein Leben von reichstem Glanz», so rechtfertigt Montaigne die Wahl seines Exempels, und das mit Recht, denn «jeder Mensch», so fährt er fort, «trägt in sich die ganze Form der Menschlichkeit».

Da haben wir sie, die Montaignesche Ambition: Ein Held sein wollte er nicht, und in seinen Schriften verweigert er uns jeden schnellen Trost. Doch was es heissen könnte, die «conditio humana» an sich zu erkennen, das hat er uns wie kein anderer vorgemacht.

Ursula Renz ist Professorin für Philosophiegeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und Verfasserin und Herausgeberin zahlreicher Texte zur Philosophie der frühen Neuzeit und zum Thema Selbsterkenntnis.

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Ursula Renz

Glücklich sind jene, die zu lesen verstehen Michel de Montaigne, der Begründer der Essayistik, hat in Karlheinz Stierle einen idealen Interpreten gefunden. Das zeigt ein Buch des Literaturwissenschafters über Montaigne und die Moralistik.

Ralf Konersmann

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